17. Indisches Filmfestival Stuttgart vom 15. bis 19. Juli 2020
Online-Besuch im neuen indischen Kino
Für 4.99 Euro fünf Tage lang zuhause indisches Kino anschauen: Mit einem kurzweiligen, engagierten Online-Programm porträtiert das 17. Indische Filmfestival Stuttgart vom 15. bis 19. Juli 2020 eine Gesellschaft, die extreme Unterschiede aushalten muss. Die Bandbreite reicht von frechen heiligen Großstadtaffen, Stromdieben, dem Dilemma eines arbeitslosen Literatur-Alumnus, der aktuellen Diskriminierung und Ausgrenzung von Muslimen, Dalits, Christen und Stammesangehörigen in ganz
Indien bis hin zur Konfrontation mit der Welt der Hijras, Indiens Drittem Geschlecht. ‘Fridays for Future’- Klima-AktivistInnen aus Delhi, Mumbai und Stuttgart kommen in dem vielversprechenden Programm ebenfalls zu Wort. Das ins Internet verlagerte Filmfestival bringt ein Wiedersehen mit Publikumsliebling Geetanjali Thappa, die 2018 mit Onirs romantischer Komödie ‘Kuchh Bheege Alfaaz’ das Stuttgarter Publikum begeisterte. Die Kamerafrau Pooja Gupte, die 2019 beim 16. IFFS eine Referentin der Masterclass ‘Making of Indian Cinema’ war, nahm den Kurzfilm ‘Wig’ ihres Ehemanns Atanu Mukherjee auf.
Online-Kino mit Kasse, Shop und Kinosaal
Die Homepage www.indisches-filmfestival.de wird erstmals zum weltweiten Online-Kino mit einem Foyer, in dem an einer Kasse ein preiswerter Festivalpass (all inclusive) und in einem Shop zum Beispiel indische Marionetten oder Festivaltaschen gekauft werden können. Hier sehen die UserInnen ebenso die kostenlosen Clips der themenbezogenen ‘Tea Talk’-Gespräche, Interviews und Grußbotschaften. Mittelpunkt des Filmtheaters auf der Homepage ist der digitale Kinosaal, in dem über Codes jederzeit und überall die Wunschfilme einmal angeschaut werden können.
Etwa die herrliche Spielfilmsatire ‘Eeb Allay Ooo’ von Prateek Vats. Es geht um die frechen heiligen Langurenaffen von Neu-Delhi, die wie Götter verehrt werden und jedem ‘anständigen’ Hindu auf der Nase herumtanzen dürfen. Doch Anjani, der vom Dorf kommt und in der Metropole endlich einen Job gefunden hat, machen die Affen richtig Angst. Für ihn verwandeln sich die putzigen Fellknäul in zähnefletschende Ungeheuer. Ob ihm sein Kollege Mahindra helfen kann, der einer Dynastie von Affenvertreibern entstammt? Seit sieben Generationen verscheuchen sie mit den schrillen Tierlauten ‘Eeb’, ‘Allay’ und ‘Ooo’ die heiligen Languren.
„In ähnlichem Umfang wie im analogen Festival findet das diesjährige Kurzfilm-Programm statt. Etwa 15 Beiträge von jeweils fünf bis etwa 30 Minuten Dauer“, erklärt Programmleiterin Elisa Kromeier. Das Angebot gleicht einem Schmelztiegel, der sich weniger auf filmische Experimente einläßt; vielmehr Situationen aus dem aktuellen Leben der Menschen in Indien mit viel Liebe und Anteilnahme in Szene setzt. Alle Festivalfilme entstanden vor der Corona-Pandemie.
Zu den Perlen der Kurzfilme gehört ‘Wig’ von Atanu Mukherjee. Der 26-Minüter spielt in einem Appartement am Hijra-Strich. Nach vielen Absagen bleibt für eine junge, alleinstehende, berufstätige Frau nur diese unattraktive Wohnung übrig. Ein Schicksal, das die Protagonistin mit vielen Inderinnen teilt. Denn: Die in Indien üblichen Mietgemeinschaften wollen keine unverheiratete Nachbarin, die alleine lebt. Als eines Abends vor ihrem Fenster eine Hijra überfallen wird, hilft die Frau dem verletzten Transgender. Am nächsten Morgen findet die Frau nur die Perücke der Hijra, die sie beim Reinigen ihres blutverschmierten Gesichtes im Badezimmer abgenommen hatte. Sie macht sich auf die Suche nach der Verschwundenen – eine Reise in die Welt einer Minderheit im Schatten des indischen Mainstreams beginnt.
Wiedersehen mit Publikumsliebling Geetanjali Thapa
Das von der Regierung Modi erlassene Staatsbürgerschaftsgesetz legt die Kriterien fest, wer Inder werden darf. Muslime werden laut Einbürgerungsgesetz extrem diskriminiert. ‘Frayed Lines’ von Priya Belliappa mit Schauspielerin Geetanjali Thapa greift dieses Thema auf. Der Kurzfilm spielt auf einer Kaffeeplantage in Kodagu, auf dem Gut begegnen sich Kalappa, ein gebildeter Arbeitsloser aus einer armen Familie aus Kodagu, und die Wanderarbeiterin Tabu, die 2.000 Meilen angereist ist, aber – wie viele in Indien geborene Menschen – keine Geburtsurkunde besitzt. Nach dem neuen Gesetzt ist für die junge Frau in dem 1,4 Milliarden-Volk kein Platz mehr. Was ist im Land der tausend Sprachen und Kulturen plötzlich los, fragt sich Regisseurin Priya Belliappa.
Ganz anders der Kurzfilm ‘Patrick Goes To Bollywood’ von Patrick Ranz aus München, der als Profi-Fotograf gewöhnlich hinter der Kamera steht und nun eine ganz neue Rolle vor der Kamera entdeckt. Er reist nach Indien, um in der größten Filmindustrie der Welt als Schauspieler entdeckt zu werden. Ein Trip ins pralle indische Leben beginnt.
Filmisches Boxer-Denkmal für Tom Molineaux
Um Rassismus im Boxsport geht es in ‘The Bare Knuckle Gentlemen’ von Nishad Chaughule. 1810 fand in einem privaten Keller in London ein Boxkampf statt: Tom Molineaux, ein befreiter afroamerikanischer Sklave, vs. Tom Cribb, den amtierenden englischen Champion. Cribb gewann; doch Bill, der Trainer des Verlierers, witterte Betrug und Diskriminierung. Bill verwandelt seinen Schützling in einen englischen Gentleman, der später sowohl für England als auch für Irland boxte. Der Film setzt Molineaux, der 1997 in die International Boxing Hall of Fame aufgenommen wurde, ein filmisches Denkmal.
In ‘Don Jagatia Kavi – Poet in Two Worlds’ von Swapnil Vasant Lata Kapure will der arbeitslose Literaturabsolvent Raja die verhasste Sojabohnenfarm seines strengen Vaters verlassen, um sich ganz seiner Leidenschaft, der Poesie, widmen zu können. Der Kurzfilm thematisiert das Dilemma vieler Studenten, die nach der Universität keinen geeigneten Job finden. Und er zeigt die brutalen Veränderungen im dörflichen Leben.
Jubiläum- 10 Jahre Filmwettbewerb ‘Short takes’
Ebenfalls im Programm zu sehen sind die drei Gewinner-Filme des 10. Short takes Wettbewerbs in Kooperation mit pocket films. Diesmal darf der Sieger wegen der Pandemie leider nicht
nach Stuttgart fliegen. Die Gewinner sind: ‘Noor’ von Kiran Nagdev (erster Preis) , ‘Nazariya’ von Rishi Joshi (zweiter Preis) und ‘Saturday Nights’ von Shibu Sable (dritter Preis). Zum Jubiläum wird Saameer Mody von ‘pocket films’ noch ein besonderes Kurzfilmprogramm kuratieren, das unter dem Motto ‘Hoffnungsschimmer’ stehen wird.
Dokumentarfilm über Stromdiebe
Anandana Kapur hinterfragt in ihrem Dokumentarfilm ‘Aayi Gayi’ das Zitat: “Auf nationaler Ebene haben wir überschüssigen Strom. Die Stromversorgung ist also kein großes Problem. Aber das ganze Problem ist, wie man Strom verteilt.” Es geht um Stromdiebe, die illegal Stromleitungen anzapfen, und Menschen, die einfach nicht ihre Stromrechnungen bezahlen können. Die Dokumentarfilmerin will wissen, ob es ein soziales Recht auf Elektrizität gibt oder Strom eine Ware ist.
Fridays for Future in Delhi, Mumbai, Stuttgart
Auf die ‘Tea Talks’, seit dem ersten Indischen Filmfestival Stuttgart ein fester Programmpunkt, muss das Publikum in der Online-Ausgabe nicht verzichten. Der Corona-Lockdown gab in Delhi, der dreckigsten Stadt der Welt, den Blick frei zum Himalaya und verwandelte die Filmmetropole Mumbai in eine autofreie Geisterstadt. Sind der steigende Meeresspiegel, der sehr dichte Verkehr und das Abholzen der letzten Grünflächen für die 20 Millionen Einwohner der Stuttgarter Partnerstadt plötzlich kein Thema mehr? Die Corona-Pandemie beherrscht die Schlagzeilen. Doch die knapp 30 Klima-AktivistInnen der ‘Fridays for Future’-Gruppe in Mumbai lassen nicht locker. Obwohl Umweltaktivisten in Indien als Entwicklungsbremser diffamiert werden und streikenden Schülern der Schulverweis droht, wollen sie auch weiterhin möglichst viele Menschen mobilisieren. Mehrere Zehntausend Demonstranten wie
in Stuttgart sind für die 30 SchülerInnen in Mumbai kaum vorstellbar – noch. Dieser ‘Tea Talk’ geht den Fragen nach, ob eine Vernetzung zwischen den Gruppen in Stuttgart, Delhi und Mumbai möglich ist und wie sie aus der Corona-Situation den Vorteil daraus ziehen können, ihre Ziele global zu erreichen.
Aus Delhi zugeschaltet sein wird der 16-jährige Schüler Aman Sharma, aus Mumbai der 23-jährige Architekturstudent Maheshwar Khetan, aus Stuttgart ein Aktivist. Teilnehmen wird auch Elvira Greiner, die Vorsitzende der Hilfsorganisation ANDHERI-Hilfe, die neben Entwicklungsarbeit in Indien auch Klimaschutzprojekte verwirklicht.
Indische Filmfreunde begrüßen Online-Festival in Stuttgart
In den drei weiteren ‘Tea Talks’ dokumentieren Inder mit ihren Handykameras, wie sie die Corona- Pandemie zuhause erleben, verraten indische Köche in Stuttgart ihre Lieblingsrezepte und sagen indische Filmfreunde via Clip „Hallo“. Denn auf dem Subkontinent herrscht immer noch Ausnahmezustand. Das Land zwischen Himalaya und indischem Ozean entwickelte sich zu einem weiteren Corona-Hotspot.
Erstmals in der Geschichte des Stuttgarter Filmfestivals reisen die beiden Kuratorinnen Uma da Cunha und Therese Hayes nicht an. Uma und ihr 93 Jahre alter Ehemann Gerson da Cunha senden immer wieder Signale aus Mumbai. Uma begrüßt – wie die anderen indischen Freunde des Festivals – die Online-Ausgabe in Stuttgart. In Indien, so betont sie, werden viele Filmfestivals von privaten Veranstaltern durchgeführt. Es gäbe keinerlei staatliche Unterstützung. Fehle den privaten Machern das nötige Geld, finde überhaupt nichts statt. Therese Hayes sitzt derweilen in den USA fest und bangt um ihr Palm Springs International Film Festival im Januar 2021. Der Tenor der meisten Grußbotschaften aus Indien: Seit März wird nichts gedreht. Bereits fertige große Spielfilme werden bis zu einer möglichen Kinoauswertung zurückgehalten. Gegenüber einer Online-Premiere bestehen seitens der Produzenten große Bedenken. SchauspielerInnen und RegisseurInnen plagen Existenzängste.
Dennoch loben alle die Initiative des Filmbüros Baden-Württemberg: Eine Online-Version sei ein Ausweg aus der weltweiten Starre im Kulturbetrieb. Dank des Filmfestivals in Stuttgart erreichen indische Filme ein weltweites Publikum.
Neue Herausforderungen mit viel Herzblut gemeistert
Fast zeitgleich legte die Corona-Pandemie Mitte März das öffentliche Leben in Stuttgart und seiner indischen Partnerstadt Mumbai lahm. Der Lockdown mit ungewissem Ausgang stellte das Festival-Team in der baden-württembergischen Landeshauptstadt vor neue Herausforderungen: Ganz absagen, verschieben oder Online? Das Filmbüro Baden-Württemberg, so stellt Festivalleiter Oliver Mahn klar, entschied sich für die digitale Variante.
Bis zum Opening am 15. Juli muss also weiterhin hart verhandelt und gepokert werden, um noch das eine oder andere Highlight an Land ziehen zu können. Erschwerend kommt dazu, dass Sponsorengelder ausfallen und Ticketeinnahmen aufgrund fehlender Erfahrungswerte nicht realistisch kalkuliert werden können. Die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg unterstützen mit finanzieller Soforthilfe das 17. Indische Filmfestival Stuttgart.
„In unserem Online-Festival steckt viel Herzblut. Die ZuschauerInnen erwartet ein ganz besonderer virtueller Kinobesuch zu einem sensationell günstigen Preis und mit einem informativen, unterhaltsamen Rahmenprogramm,“ verspricht Festivalleiter Oliver Mahn. Da die Filmfans keine physische Präsenz im realen Kino mehr benötigen, ist die Zielgruppe für das Indische Filmfestival Stuttgart jetzt weltweit.
“In dieser Herausforderung liegt eine große Chance, neue Wege zu gehen und andere Gruppen zu erreichen. Das Internet und die technischen Möglichkeiten , die heute zur Verfügung stehen, haben Kunst und Kultur eine Stimme gegeben, die ansonsten verstummt wäre”, gibt Festivalleiter Mahn zu bedenken.
Für die 18. Ausgabe von Europas größtem indischen Filmfestival im nächsten Jahr erhoffen sich Mahn und sein Team jedoch wieder echte Festivalatmosphäre im festlich dekorierten Metropol Kino mit indischen Filmgästen auf dem Roten Teppich, Live-Auftritten und 5.000 begeisterten BesucherInnen. Aber vielleicht auch mit Elementen des Online-Festivals, die sich bewährt haben werden.
Zum Festival und alle Programminformationen geht es über: www.indisches-filmfestival.de